BNN 01.04.1995
Bietigheim/Durmersheim (HH).
Es beginnt mit einfachen Übungen. Arme strecken, weiter, höher - und
lockern, ausschwingen lassen und alles noch mal von vorne. Dann zeigt
der Leiter den im Halbkreis aufgestellten Herren, wie das
Aufwärmtraining fortgesetzt wird: mit den Fingerspitzen übers Brustbein
klopfen, runter und rauf, runter und rauf. Was wird hier gespielt?
Nichts wird gespielt - es wird gesungen, es ist Chorprobe im "Hirsch"
in Bietigheim. Bevor die Stimmbänder arbeiten müssen, wird erst der
Körper gelockert. Nach der leichten Gymnastik geht es langsam dem
Wesentlichen entgegen. Erst mal kräftig den Unterkiefer bewegen, kauen
wie ein Breitmaulfrosch. Dann die ersten Töne: "mua, mua, mua", die
Tonleiter einmal durch. "Sa, so, sa, so", aus den Tiefen in die hohen
Stimmlagen. Und zwischendurch wird gemeinschaftlich gegähnt, sie gähnen
tatsächlich als würden sie aus einem Tiefschlaf herausdämmern. Man
merkt bei einem Probebesuch schnell, daß es kein Gesangverein ist, der
sich hier jeden Dienstag abend trifft.
Ein Dutzend Sänger haben sich in privater Initiative einen Dirigenten
gesucht und sich zum "Hardtchor" formiert. "Süchtig nach dem reinen
Klang" steht auf den Visitenkarten, die sie sich schon haben machen
lassen. Dieses Motto ist Programm. Sie wollen nicht einfach nur singen,
sie wollen es mit Anspruch tun. Jeder einzelne soll seine Stimme
ausformen können, die gerne gebrauchte Bezeichnung "Klanginstrument"
bekommt hier ihre Bedeutung.
Gesungen wird, was Spaß macht. Das Repertoire wächst, einer macht einen
Vorschlag, dann probiert man das Stück. Seit fast einem Jahr ist der
"Hardtchor" zusammen. Zuerst war das "Warteck" in Durmersheim
Probelokal, dann konnte man ins geräumige Nebenzimmer des "Hirsch" im
Nachbardorf umziehen, wo Dirigent Stefan F. Fischer auch mit einem
Klavier arbeiten kann. Als Beobachter einer Singstunde spürt man die
Motivation, mit welcher der ein Dutzend Mitglieder zählende Chor seinem
Leiter folgt. Die jüngsten der Truppe sind 24, der Älteste ist 39 Jahre
alt. Die meisten kommen aus Durmersheim, einige aus Bietigheim, einer
aus Malsch: Joachim Becker, Bernd Bertsch, Vito Cerjak, Heiko Dreixler,
Armin Haitz, Michael Kary, Manfred Lindemann, Carmelo Parello, Norbert
Tritsch, Wolfgang Völlinger, Wolfgang Wald, Albert Walter.
Dirigent Fischer lebt in Karlsruhe, wo er an der Staatlichen Hochschule
Musik studiert. Er leitet auch einen Kirchenchor, hat also wie manche
der "Hardtchor"- Sänger Erfahrung mit eher konservativen Formen des
gemeischaftlichen Singens. Heute abend darf die Konkurrenz aufhorchen.
Zum ersten Mal tritt der "Hardtchor" in der Öffentlichkeit auf.
Die Premiere findet beim Konzert des Durmersheimer Akkordeonspielrings
in der Littlehamptonhalle statt. Es werden vier Stücke vorgetragen.
Wundern ist erlaubt, denn der junge, als "alternativ" anzusehende Chor
trägt zwei Lieder aus dem 16. Und 17. Jahrhundert vor. "Frau Musica
singt" von Melchior Vulpus und auf französisch "Pavane" von Toinot
Abrean. Dann folgt ein Sprung ins 20. Jahrhundert mit zwei Titeln, die
schon eher der Erwartung entsprechen: "If I fell" und "You`re going to
loose that girl" von den Beatles (siehe Meldung unten). Das alte und
das neue "Liedgut" pflegt der Chor mit gleicher Anstrengung und Hingabe.
Die Lust am Singen hatten einige der "Hardtchor"- Männer in
Gesangsvereinen, in denen sie mitwirkten, beinahe verloren. Hätte sich
die neue Formation nicht gebildet, daran lassen sie keine Zweifel, wäre
ihre aktive Sängerlaufbahn schon längst beendet. Nun singen sie also
wieder, auch bei den Übungsstunden fast immer im Stehen übrigens und
nicht nach Stimmen geordnet.
Ahnlich unkonventionell wird auch das Organisatorische gehandhabt. Es
gibt keinen Vorsitzenden, keinen Notenwart, keinen Schriftführer, man
ist schließlich kein Verein und kommt mit den lockeren Formen ganz gut
zurecht. Da zahlt sogar jeder jeden Monat einen Betrag, der höher als
mancher Jahresbeitrag bei Vereinen ist, um die Unkosten zu decken und
das Dirigentensalär berappen zu können. Natürlich will der "Hardtchor",
auch wenn man es nicht gerne auswalzt, die alteingesessenen Vereine
wenigstens ein bißchen kitzeln. Und sei es nur über den leicht
provozierenden Namen, weil der im Klang mit einem nicht unbekannten
englischen Ausdruck identisch ist, der, zurückhaltend übersetzt,
"starker Tobak!" heißen könnte.